Kleine Geschichte von Ostfriesland
Dr. Rudolpf Christoph Gittermann

Andreas Achenbach, Düsseldorf 1885
6. Große Wasserfluthen.
Einbruch des Dollarts. Erweiterung der harrlingerländischen Watten.
Im zwölften und dreizehnten Jahrhundert wurde Friesland zu
wiederholten Malen mit furchtbar zerstörenden, die ganze Gestalt
unsers Vaterlandes verändernden Wasserfluthen heimgesucht. Tausende
von Menschen, Männern, Weibern und Kindern fanden ihr Grab in den
Wellen. Besonders schreklich waren die Jahre 1164, worin 100,000
Menschen in den Fluthen umkamen, und 1277 bis 1287, in welchen der
Dollart, ein Meerbusen zwischen dem jezzigen Ostfriesland und
Groninger Land, sich bildete. Zuerst brach im Anfange des Jahres 1277,
bei einem gewaltigen Sturm aus Nordwesten, der Jansumer Deich durch,
der zu Ende desselben Jahres völlig wegspülte. Reiderland war jezt den
wilden Meereswellen Preis gegeben, welche nach und nach, und besonders
im Jahre 1287, wo heftige Wasserfluthen immer tiefer landeinwärts
drangen, einen bedeutenden Landstrich mit 50 blühenden Dörfern und
einer äusserst wohlhabenden Stadt, Namens Torum, gänzlich
verschlangen. Da also, wo sich jezt ungestüme Meereswogen thürmen, war
in früheren Jahrhunderten ein reges und fröhliches Leben freier und
wohlhabender Landleute. Volkreiche Dörfer mit großen Kirchen und
reichen Klöstern prangten in der anmuthigen Landschaft. Von dem allen
ist jezt keine Spur mehr. Ueber die vormaligen mit üppigem Grase
bedekten Weiden segeln nun — Schiffe, und da, wo die alten
Reiderländer das schönste Korn ärndteten, fangen wir jezt Seefische.
Indeß sind dem Dollart an der ostfriesischen sowohl als an der
gröningerländischen Seite in späteren Zeiten wieder bedeutende
Landstriche durch Eindeichungen abgewonnen, die gegenwärtig die
schönsten und reichsten Polder in Ostfriesland ausmachen. So giebt das
Meer das den Vätern entrissene Land in ungleich größerer Güte den
späten Enkeln wieder. ..,
Wie der Süden des Landes durch den Einbruch des Dollarts, so litt auch
der Norden desselben in dieser Periode große Revolutionen. Die
harrlingerländischen Inseln Langeroge und Spikeroge waren vorhin nur
durch ein schmales Wasser gegen Bense und Seriem über von dem festen
Lande getrennt, so daß, nach einer alten nicht unwahrscheinlichen
Sage, die Bewohner des Festlandes und der Inseln sich das Brod auf
einer Ofenschaufel zulangen konnten. Jm dreizehnten Jahrhundert
erweiterte sich aber durch starke Stürme und Strömungen dieses
Fahrwasser; immer tiefer drang die See in das nicht gehörig geschüzte
Land ein und riß eine bedeutende Strekke desselben weg. Wahrscheinlich
wurden mehrere blühende Ortschaften ein Raub der Wellen. Von einen,
schönen, ehemals dort gelegenen Dorfe, Otzum genannt, hat man noch im
vorigen Jahrhundert zur Zeit der Ebbe nicht undeutliche Spuren
bemerken wollen. Aber auch hier werden die Nachkommen der alten
Harrlingerländer, die Haus und Hof und selbst ihren heimathlichen
Boden in den Fluthen verloren, von Jahrhundert zu Jahrhundert mit
fruchtbaren Anwächsen und Groden von dem befreundeten Meere beschenkt.
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